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Stadt ohne Gott?

Die Herausforderung der Megastädte für die christliche Mission
Auszug aus Hans Guderian: Weltweit auf Gottes Spuren, S. 172-175

Megastädte

1. Säkularisierung und Verstädterung

1.1 Harvey Cox: Stadt ohne Gott? – Vor etwas mehr als 30 Jahren schrieb der amerikanische Theologe Harvey Cox über die „Stadt ohne Gott“, die mehr oder weniger totale Religionslosigkeit der modernen Stadt. In der Nachfolge Dietrich Bonhoeffers und seines „religionslosen Christentums“ ging Harvey Cox sogar so weit, dass er formulieren konnte, „dass wir eine Zeitlang ein Ende machen müssen mit dem Reden über Gott ... damit der, der sich in Jesus offenbart, nicht mit den Göttern der Mythologie oder der Gottheit der Philosophie verwechselt wird“.

1.2 Von der geschlossenen zur offenen Gesellschaft – Tatsächlich ist das Reden über Gott in der modernen städtischen Gesellschaft weitgehend an den Rand gedrängt worden. Dafür gibt es Gründe. Frühere ländlich geprägte Kulturen waren in sich geschlossene Gesellschaften. Hier gehörten Politik, Religion, Volk, Kultur und Glaube zusammen. Im Zentrum dieser geschlossenen Gesellschaft standen das Dorf, die Sippe, das Geschlecht. Ganz anders sind dagegen offene städtisch geprägte Gesellschaften strukturiert. Hier stehen im Mittelpunkt die Stadt, der Markt, die Ökonomie. Die christliche Gemeinde ist hier nur noch ein Randphänomen. 

1.3 Megastädte und Globalisierung – Diesen allgemeinen soziologischen Beobachtungen kommt angesichts der enormen Verstädterung unserer modernen Welt heute eine besondere Aktualität und Dramatik zu. Lebten 1995 noch 2,4 Milliarden Menschen in Städten, so werden es im Jahr 2015 schon 5 Milliarden sein. Dann gehören mehr als 60 Prozent der Weltbevölkerung zur Spezies der Städter. Es wird dann über 500 Millionenstädte geben. Von diesen Megastädten mit ihren glitzernden luxuriösen Zentren und ihren unübersehbar wuchernden riesigen Slums wird auch in Zukunft eine ganz starke Faszination ausgehen für Millionen von Menschen aus aller Welt.

2. Evangelium für die Stadt

2.1 Gemeinde Jesu im religiösen Pluralismus – Die Gemeinde Jesu hat sich schwer getan mit der Verstädterung der Gesellschaft und tut sich schwer bis heute. War früher wie selbstverständlich die „Kirche mitten im Dorf“, so haben christliche Gemeinden die Menschen in der Stadt heute weitgehend alleingelassen. Im Wedding, einem Berliner Arbeiterbezirk, gab es vor dem 1. Weltkrieg auf dem Höhepunkt der Industrialisierung für 140.000 Menschen nur eine Kirche mit gerade einmal 1.500 Plätzen. Die „Kirche im Dorf“ wurde ersetzt durch die „Kneipe an der Straßenecke“. Allerdings haben unsere baptistischen Gemeinden zusammen mit anderen freikirchlichen Gruppierungen im 19. und frühen 20. Jahr-hundert gerade auf dem Hintergrund dieser massiven Säkularisierung die Menschen in den großen Städten besonders wirkungsvoll mit dem Evangelium erreichen können.

2.2 Das Miteinander von Diakonie und Evangelisation – Dieses zeitweilige Aufblühen unserer baptistischen Gemeinden in den säkularen Großstädten hatte vor allem auch mit dem ganz engen Miteinander von Evangelisation und Diakonie zu tun. „Sonntagsschulen“ vermittelten biblisches Wissen und waren zugleich wirkliche Schulen für die Kinder der ganz Armen. Handwerker, einfache Arbeiter, Tagelöhner fanden zu Jesus und erfuhren Hilfe in ihren sozialen Nöten.

2.3 Kein Raum für Obdachlose und „Aktien-Shareholder“? – Heute jedoch versammeln sich in unseren baptistischen Gemeinden in Europa wie auch in vielen Stadtgemeinden in Übersee vor allem Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht. Den Kontakt zu weiten Kreisen der modernen städtischen Gesellschaft haben wir weitgehend verloren: zu den Obdachlosen, Alkoholikern, Prostituierten, zu den Künstlern und den Anhängern der verschiedenen Subkulturen, zu den Unterhaltungssüchtigen und Partygängern, zu den Fußballfans und Freizeitsportlern und auch zu den Eliten, den Top-Managern und „Aktien-Shareholdern“ und zu den Angehörigen der gesellschaftlichen Oberschicht.

3. Die charismatische Bewegung in der Stadt

3.1 Die Pfingstbewegung in der „Dritten Welt“ – Auf diesem Hintergrund der „Entkirchlichung“ der modernen Großstädte kann man nun aber seit etwa zehn Jahren eine bemerkenswerte Entwicklung beobachten: das massive Anwachsen charismatischer und pfingstlicher Gemeinden vor allem in den Metropolen der sogenannten „Dritten Welt“. Auch Harvey Cox hat deshalb seine These von der Religionslosigkeit der modernen Stadt inzwischen revidiert. In seinem neuen Buch „Fire from Heaven“ über das Wachstum der Pfingstbewegung, die ja in weniger als hundert Jahren auf nahezu 500 Millionen Anhänger angewachsen ist, beschreibt er diese Neubelebung der Gemeinde Jesu, in der Menschen in großer Zahl angesichts von Anonymität und scheinbarer Sinnlosigkeit des Lebens Gemeinschaft und eine eindeutige Orientierung für ihr Leben finden.

3.2 Gottesdienst als Fest des Glaubens – Dies zeigt sich vor allem in der Gestaltung charismatisch geprägter Gottesdienste, in der offenen Erwartung des Redens und Handelns Gottes, in der festlichen Atmosphäre des Gebens und Nehmens. Hier geht es nicht so sehr um Andacht, Stille, eine feste Liturgie, um Belehrung und Ermahnung, sondern um die Begegnung miteinander und mit dem lebendigen Gott. Deshalb so viele alte und neue Lieder und Chorusse, deshalb diese besonderen Zeiten des Lobpreises und der Anbetung, deshalb die Offenheit für Zeugnisse, prophetisches Reden, Segnungen und persönliche Seelsorge einschließlich der Erwartung von Heilungen und Manifestationen Gottes.

3.3 Die Stadt als Nährboden charismatisch geprägter Frömmigkeit – Eine derart bunte, vielfältige und grundsätzlich offene Frömmigkeit korrespondiert offenbar in besonderer Weise mit dem Lebensgefühl vieler Menschen in der Stadt. Der mexikanische Theologe Daniel Chiquete, der einer Pfingstkirche angehört, begründet dies so: „Allen Gläubigen der pentekostalen Kirche in Mexiko-Stadt ist die Erfahrung der großen Weltstadt gemein mit ihren ständigen Spannungen, ihrem rasanten Rhythmus, ihren Möglichkeiten und Beschränkungen. Für alle ist ihr pentekostaler Glaube die wichtigste Grundlage zum Leben in diesem urbanen Ungeheuer.“

4. Mission in der Stadt – ein neues Programm der „Vereinten Evangelischen Mission“ (VEM)

Diese dramatischen Entwicklungen des Rückgangs der traditionellen kirchlichen und auch freikirchlichen Präsenz in den großen Städten und des gleichzeitigen Neu-Aufblühens charismatisch und pfingstlich geprägter Gemeinden beschäftigen inzwischen viele Kirchen und Missionen. In diesem Zusammenhang hat die „Vereinte Evangelische Mission“ (VEM) ein Programm bzw. einen Prozess auf den Weg gebracht unter dem Thema „Neue Bereiche gemeinsamer Mission“, mit dessen Hilfe man Erfahrungen in der Mission, besonders in Städten, austauschen und sich gegenseitig im missionarischen Engagement unterstützen will.

Dieser Prozess begann 1998 mit einer Reihe von Konsultationen mit den Partnerkirchen der VEM in Afrika und Asien (in Daressalam/Tansania und Tagaytay/Philippinen). Aufgrund des Diskussionsprozesses in allen Partnerkirchen kam es dann zur Identifizierung des wichtigsten neuen Bereiches gemeinsamer Mission, des Themas „Mission in Großstädten“. Bei drei Workshops zu diesem Thema in Douala, Manila und Jakarta hat man sich dann nicht nur vor Ort intensiv theoretisch mit der Herausforderung der Stadtmission auseinandergesetzt, sondern hat auch bewusst die Problembereiche der Stadt besucht, die Slums, die Müllberge.

Nun geht es in einem dritten Schritt um die Umsetzung in praktische diakonische und evangelistische Projekte hinein, wobei dies vor allem von den einheimischen Kirchen initiiert und dann gemeinsam in Übersee aber auch da und dort in Deutschland geleistet werden soll.

5. Mission in der Stadt – eine Herausforderung auch für die EBM/MASA

Die EBM/MASA hat sich im Laufe ihrer Geschichte vor allem im ländlich geprägten Raum engagiert: im Norden Kameruns, im Landesinneren von Sierra Leone, in den Weiten der Pampas Argentiniens und unter indianischen Volksgruppen im tropischen Regenwald. Dabei ist viel Gutes geleistet worden, das unbedingt fortgeführt werden muss und wird.

Die Welt aber hat sich in den vergangenen 50 Jahren dramatisch verändert. Nahezu die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in den großen Städten - und ihre Zahl wächst ständig weiter. Sollten wir nicht heute vermehrt uns der Herausforderung der „Mission in der Stadt“ stellen, nach Möglichkeiten und Wegen suchen, wie wir gemeinsam mit unseren Partnern diese Menschen mit dem Evangelium erreichen können? Sollten wir nicht in ähnlicher Weise wie andere evangelische Missionen uns diesen „unerreichten Volksgruppen“ der Millionen von Menschen in den Megastädten dieser Welt neu zuwenden?

Harvey Cox hat schon Anfang der siebziger Jahre angemerkt, dass sein Konzept einer „Stadt ohne Gott“ einen Irrweg aufgezeigt hat. Der Glaube stirbt nicht, auch und gerade nicht in den Städten. Allerdings wird die religiöse Erfahrung viel pluralistischer, werden die Gemeinden alle in eine Minderheitensituation hinein gedrängt. Darin aber haben auch wir unseren Platz. Darin ergeht auch an uns neu der Ruf: „Kommt herüber und helft uns“ (Apg. 16,9).

Hans Guderian


Literaturhinweise:

- Harvey Cox: Stadt ohne Gott?, Stuttgart und Berlin 2.A. 1967.
- Walter J. Hollenweger: Der Aberglaube der totalen Säkularisierung, in: Kirche in der Stadt (Jahrbuch Mission 2001), S. 192-196.
- Frank Kürschner-Pelkmann: Städte sterben nicht, in: Eine Welt 2/2001, S. 20-23.
- Mission in der Stadt. Ein Interview mit Wilson Niwagila, Referent für Evangelisation bei der Vereinten Evangelischen Mission (VEM), in: Kirche in der Stadt (Jahrbuch Mission 2001), S. 205-212.
- Mission in großen Städten. Berichte von den Workshops in Douala (Kamerun), Manila (Philippinen) und Jakarta (Indonesien), Vereinte Evangelische Mission, Wuppertal 2000.

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