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Europa wird unser Thema

Herausforderungen für Christen
Referat auf der Bundesratstagung des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Kassel 2012
Forum III „Wir sind Europa – oder etwa nicht?“

Together for Europe

Einstieg - Seit einigen Jahren ist Europa wieder „in aller Munde“. In den Talkshows, bei den Bankern, unter den Politikern und auch bei den Christen. Letzten Samstag durfte ich auf Bitte unseres deutschen Gemeindebundes an dem großen Treffen christlicher Bewegungen und Gemeinschaften mit Vertretern aus Politik und Wirtschaft in Brüssel teilnehmen. Da ging es in ganz besonderer Weise um unser gemeinsames Europa, um unser „Europa in der Krise“.

Romano Prodi, ehemaliger EU-Ratspräsident, brachte es auf den Punkt. Er sprach von der Gefahr der Entwicklung zu neuen Nationalismen, von den Ängsten in vielen unserer Länder und davon, dass sich Europa heute möglicherweise nicht mehr als ein „gemeinsames Haus“, sondern eher als eine „Festung“ verstehen würde.

„Europa in der Krise“, das ist die Realität, mit der wir es zu tun haben und die natürlich auch uns Christen in unserem europäischen Miteinander angeht und auch in Zukunft beschäftigen wird. Ich will versuchen, in meinem Kurzreferat einige wichtige Veränderungen zu beschreiben, in denen wir gegenwärtig meiner Ansicht nach stehen, um dann danach zu fragen, in welcher Weise diese ziemlich gravierenden Veränderungsprozesse als positive Herausforderungen für die Zukunft von uns verstanden und angenommen werden können.

Vier derartige Veränderungsprozesse will ich im Einzelnen hier benennen:

1. Zunehmende Vielfalt und Gefahr der Zersplitterung
2. Migrationsbewegungen und multikulturelle Herausforderungen
3. Infragestellung von Identität und Gefahr neuer Nationalismen
4. Säkularisierung, Entfremdung vom Glauben und Wertewandel

1. Zunehmende Vielfalt und Gefahr der Zersplitterung

Bis zum Fall der Mauer 1989 war es relativ einfach, die Situation in Europa zu beschreiben. Die Welt, Europa und auch Deutschland waren geteilt in Ost und West. Das galt auch für die Europäische Baptistische Föderation. Sie umfasste bis 1989 25 Gemeindebünde, 17 davon im Westen und 8 im Osten. Heute gehören 54 große, kleine und ganz kleine Gemeindebünde zur EBF – im Westen, in Mitteleuropa, auf dem Balkan, in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion und im Nahen und Mittleren Osten.

Es ist eine problematische Entwicklung, dass wir in Deutschland und in vielen anderen west- und mitteleuropäischen Ländern von Europa heute oft nur als von dem „Europa der EU“ sprechen und gar keinen Blick mehr haben für die Länder des weiteren Ostens und Südostens, für Weißrussland, die Ukraine, Russland und andere. Und leider hat ja – anders als beabsichtigt – die Einführung des Euro, der europäischen Gemeinschaftswährung, auch eher zur Spaltung und Zersplitterung Europas und nicht zum Zusammenwachsen geführt.

Zwar bewundern viele europäische Länder unsere große deutsche Wirtschaftsleistung, die uns bisher ganz gut hat durch die Krise kommen lassen. Zugleich aber mischt sich mehr und mehr Unbehagen ein in die Diskussion und offenbar sind unsere Nachbarn nicht so ohne weiteres bereit dem Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ zu folgen.

2. Migrationsbewegungen und multikulturelle Herausforderungen

Selten zuvor in der Geschichte – vergleichbar wohl nur mit den Zeiten der Völkerwanderung im frühen Mittelalter – hat es derart starke Migrationsbewegungen in unseren europäischen Kontinent hinein und auch innerhalb Europas gegeben wie dies gegenwärtig der Fall ist. Millionen von Menschen warten in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und auch in den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion auf eine Chance, in unserem „reichen Europa“ einen Platz an der Sonne ergattern zu können. Und angesichts der enorm hohen ausufernden Jugendarbeitslosigkeit in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland müssen wir damit rechnen, dass auch aus diesen Ländern Hunderttausende zu uns kommen wollen und angesichts der offenen Grenzen im EU-Schengen-Raum auch kommen können.

Diese Migrationsbewegungen werden sich noch verstärken und werden uns vor gewaltige multikulturelle Herausforderungen stellen. Die Situation in unseren Großstädten, in Frankfurt, Stuttgart und in Berlin, ist heute schon in vielen Stadtteilen geradezu unerträglich geworden. Wenn türkische und arabische Bevölkerungsgruppen zur Mehrheit werden, verlassen deutsche Familien ihr bisheriges Wohnumfeld, sind die Schulen und Sozialeinrichtungen irgendwann überfordert und entwickeln sich enorme nationalistische und rassistische Spannungen.

Gleichzeitig sagen uns aber die Zukunftsforscher, dass wir angesichts der zunehmenden Überalterung unserer west- und mitteleuropäischen Gesellschaften einen Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland dringend benötigen. Das TIME-Magazine hat in seiner Ausgabe vom 5. März 2012 prognostiziert, dass Europa bis zum Jahr 2050 etwa 25 Millionen zusätzliche ausländische Arbeitskräfte benötigen würde – davon allein Deutschland 11,3 Millionen – wenn wir auch nur annäherungsweise unsere Produktivkraft und damit unseren Wohlstand erhalten wollten. Was für eine gewaltige Herausforderung für unser soziales Miteinander in den nächsten Jahren!

3. Infragestellung von Identität und Gefahr neuer Nationalismen

Die gewaltigen wirtschaftlichen Probleme, die Migrationsbewegungen und die Angst vor einem zwar kleinen aber durchaus existenten islamischen Extremismus führen zunehmend auch zu einer politischen Radikalisierung und zur Entstehung neuer Nationalismen. Wim Fortuyn in den Niederlanden, Marine Le Pen in Frankreich und die rechtskonservative Fidezs-Partei in Ungarn sind nur einige wenige Beispiele dafür. Gäbe es in Ländern wie Russland, Weißrussland oder der Ukraine wirklich freie Wahlen, so hätten wir es auch dort sicher mit einem überaus starken Anwachsen nationalistischer Parteien zu tun.

Viele Menschen auch bei uns haben das Gefühl, dass Identität, Vertrautheit und Heimat mehr und mehr infragegestellt werden und verloren zu gehen drohen. Vereinsamung, diffuse Ängste und das Empfinden, keine Rolle mehr zu spielen, nichts mehr wert zu sein in unserer rasant schnell sich verändernden Gesellschaft, nehmen zu und verführen dazu, den einfachen Parolen und Erklärungsmodellen der Verführer von links und rechts Vertrauen zu schenken – in Zukunft möglicherweise auch in Deutschland?

4. Säkularisierung, Entfremdung vom Glauben und Wertewandel

Bei den neueren Untersuchungen kommen Religionssoziologen immer zu dem gleichen Ergebnis: nirgendwo sonst in der Welt haben sich Säkularisierung und Entfremdung vom christlichen Glauben so sehr ausgebreitet wie in West- und Mitteleuropa. Allerdings greifen diese Säkularisierungstendenzen in etwas abgeschwächter Form mittlerweile auch über auf die Länder des Ostens. Damit hängt ein Wertewandel zusammen weg von den traditionellen Werten wie Familie, Ehe, Treue, Beständigkeit hin zu neueren Werten wie Authentizität, Freiheit, Empathie und Toleranz.

Die allgemeine Toleranz gegenüber ganz verschiedenartigen sexuellen Dispositionen und auch gegenüber allen möglichen religiösen und esoterischen Lebensentwürfen wird allerdings in einigen westeuropäischen Ländern zunehmend konterkariert durch eine aggressive und teilweise hämische Kritik am christlichen Glauben und insbesondere an dessen evangelikalen Ausprägungen. Dafür steht beispielhaft das Buch von Richard Dawkins „Der Gotteswahn“ (im englischen Original „The God Delusion“) mit dessen spöttischen Bemerkungen über den Vergleich zwischen einem christlichen Erlösergott und dem von ihm konstruierten „fliegenden Spaghetti-Monster“.

Europa ist schon längst nicht mehr das „christliche Abendland“. Das zahlenmäßige Schwergewicht der Gemeinde Jesu Christi verlagert sich mehr und mehr nach Süden, nach Afrika, Lateinamerika und Asien. Und auch die Zahl der Baptisten auf unserem Kontinent ist rückläufig. Waren es noch vor einer Generation etwa eine Millionen Baptisten in Europa, so sind es heute nur noch 750.000 mit leider weiter abnehmender Tendenz. Nur zum Vergleich: in Afrika ist in derselben Zeit die Zahl der Baptisten von auch etwa einer Million auf heute mehr als acht Millionen gestiegen


Enorme Herausforderungen und teilweise Angst machende Veränderungsprozesse, die uns durchaus zur Resignation und zur Hoffnungslosigkeit verführen könnten. Wie aber können wir dem entgegenwirken? Was haben wir diesen Entwicklungen entgegenzusetzen? Gibt es auch Hoffnungszeichen und positive Perspektiven für unser Leben und unseren Dienst als Christen in einer so dramatisch sich verändernden Welt?

Ich will hier vier derartige Hoffnungsperspektiven zumindest andeuten und kurz skizzieren:

1. Einheit bewahren und voneinander lernen
2. Segen wahrnehmen und Chancen eröffnen für Zuwanderer
3. Identität und Heimatgefühl stärken
4. Neue Formen ausprobieren und inhaltliche Anfragen ernst nehmen

1. Einheit bewahren und voneinander lernen

Auch angesichts der Krise müssen wir uns weiterhin gegenseitig sagen, wie gut es ist, dass wir zusammenleben und zusammenwachsen in Europa und wie gut uns Europa tut. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das die Vision für die – übrigens sehr stark christlich geprägten – Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften Adenauer, Schumann und De Gasperi. Später dann nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ging es den Menschen aus Ost und West darum, sich nach den Jahrzehnten der Trennung wieder neu kennen und schätzen zu lernen.

Heute muss uns das auch wieder neu ein ganz wichtiges Anliegen werden, auch uns Christen, die Begegnung zu suchen auch mit dem ganz anders geprägten Bruder und der ganz anders geprägten Schwester aus Russland, aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Südeuropa. Deshalb ist es mir in meinem Dienst als EBF-Präsident ein besonders großes Anliegen, viele Reisen zu unternehmen und mit vielen christlichen Leitern zu sprechen gerade in den Ländern des Ostens, in denen vieles tatsächlich ganz anders ist und anders gesehen wird als bei uns.

Und neben der Begegnung ist noch etwas Zweites ganz wichtig. Zu oft haben wir im Blick auf unsere internationalen Beziehungen zuerst und vor allem davon gesprochen, wie wir den anderen helfen können und was sie von uns erwarten dürfen. Dies galt sowohl für die Weltmission als auch für unser Miteinander in Europa. Wir waren in der Regel die Gebenden, die Spendenden, die Belehrenden. Wie gut, dass sich dies langsam aber sicher zu ändern beginnt und dass wir bei solchen Begegnungen – wie zum Beispiel vor kurzem bei der Reise einer Gruppe aus unserem Bund nach England – auch einmal die Lernenden und die Empfangenden sein können

2. Segen wahrnehmen und Chancen eröffnen für Zuwanderer

Die Bewältigung der Migrationsströme in Europa wird eine der größten Herausforderungen für die Zukunft sein. Als Christen können wir diese politische Aufgabe in positiver Weise begleiten, in dem wir modellhaft ein Beispiel geben für ein gutes Zusammenleben in unseren Kirchen und Gemeinden. Dies sollte uns auch deshalb nicht zu schwer fallen, da wir ja heute schon feststellen können, dass Migrantengemeinden die am schnellsten wachsenden Gemeinden in Europa sind. Dies gilt auch für Baptisten und auch für unseren Bund. So melden leider viele Gemeinden im Landesverband Berlin-Brandenburg stagnierende Mitgliederzahlen und Zahlen für Gottesdienstbesucher. Eine positive Ausnahme ist die „International Baptist Church“ in Berlin-Steglitz mit zwar nur 66 Mitgliedern, aber einem durchschnittlichen Gottesdienstbesuch von 162 Personen.

Wie erfreulich, dass wir inzwischen in einem Netzwerk internationaler Gemeinden mehr als 200 Gottesdienste und Versammlungen für fremdsprachige Mitbürger auflisten können. Damit aber haben wir noch lange nicht das Optimum eines guten Miteinanders zwischen Deutschen und Ausländern in unserer Bundesgemeinschaft erreicht. Bisher jedenfalls gehört kein ausländischer Christ zu unserem Präsidium, ganz anders als dies etwa in Norwegen der Fall ist, wo 1/3 des Bundes aus burmesischen, kongolesischen und vietnamesischen Gemeinden besteht. Auch in Österreich ist der Anteil ausländischer Christen am dortigen Gemeindebund viel höher als bei uns. Und in London und in Paris sind die größten Baptistengemeinden karibische bzw. kamerunische Gemeinden. Weltmission unmittelbar vor unserer Haustür muss heute auch heißen: wir eröffnen Lebensraum unter uns für unsere Gäste und Neubürger, für die vielen Migranten und deren Familien.
 
3. Identität und Heimatgefühl stärken

Den Ängsten und Empfindungen der Entfremdung bei vielen Menschen heute können wir allerdings nicht nur entgegenwirken, indem wir einseitig das „Hohelied“ der wunderbaren multikulturellen Gesellschaft anstimmen und dabei vielleicht zugleich auch noch alles Bodenständige und Heimatverbundene als altmodisch und überholt abwerten. Die Menschen haben natürlich auch ein Bedürfnis nach Identität und heimatlicher Verwurzelung und Vertrautheit.

Als Christen können wir mithelfen, dass sich eine gesunde heimatliche Verbundenheit und eine Dankbarkeit für das Gute in unseren Regionen und in unserem Land entwickeln – nicht nur im Blick auf die Erfolge unserer Fußball-Nationalmannschaft. Auch wenn wir zu Recht immer wieder mahnend an die dunklen Seiten unserer deutschen Geschichte erinnern müssen, so sollten wir zugleich doch auch wieder verstärkt von dem uns anvertrauten guten Erbe sprechen, der von Deutschland und anderen Ländern ausgehenden evangelischen Reformation und der teilweise ja auch mit den Freikirchen eng verbundenen diakonischen Initiativen des 19. Jahrhunderts. Gott sei Dank hat es auch eine reiche Segensgeschichte gegeben in unserem Land – so wie sicher in vielen anderen Ländern auch

4. Neue Formen ausprobieren und inhaltliche Anfragen ernst nehmen

Schließlich noch ein Wort zu der in unseren Breiten besonders ausgeprägten Säkularisierung und Entfremdung vom Glauben. Ich möchte uns Mut machen, dass wir dieser Entwicklung in einer doppelten Weise positiv herausfordernd begegnen. Zum einen müssen wir sicher – was auch an vielen Orten und in vielen Gemeinden schon geschieht – neue Formen ausprobieren. Meiner Wahrnehmung nach ist unsere Offenheit hier besonders groß im Hinblick auf neue soziale und diakonische Projekte. In Berlin spricht man von der Orientierung des Gemeindelebens hin auf das Gemeinwesen, auf den „Kiez“.

Viele Gemeinden in unserem Bund nehmen auch zahlreiche neue Impulse aus den neuen Gemeindegründungs- und Gemeindeaufbauinitiativen aus den USA auf. „Willowcreek“ und das Konzept der „emerging churches“ sind nur zwei Beispiele dafür. Meiner Ansicht nach sollten wir aber unseren Blick weiten. Vor allem in Afrika, in Lateinamerika und in Asien wachsen Kirchen und Gemeinden in unglaublich starker Weise. Lasst uns doch einander darum bemühen – stärker noch als bisher – auch von diesen unseren geringsten Schwestern und Brüdern zu lernen.

Zusätzlich zu der Bemühung um neue Formen brauchen wir aber zum anderen aber auch eine verstärkte apologetische Auseinandersetzung mit der modernen Religionskritik und Verächtlichmachung des christlichen Glaubens. Christen in Europa sollten gegenüber ihren Kritikern eintreten für den Schutz von Ehe und Familie, für den Schutz des geborenen und ungeborenen Lebens und für eine Toleranz, die diesen Namen verdient und beispielsweise auch den wertkonservativen Mitbürger achtet und in seinem Lebensethos ernstnimmt.


Ganz zum Schluss will ich noch einmal zurückkommen zu dem großen Treffen christlicher Gemeinschaften und Bewegungen in Brüssel am vergangenen Samstag. Es war bei allem Bezug auf die gegenwärtige große Krise Europas ein Treffen voller Hoffnung. Dazu nur noch zwei Zitate. Maria Voce, Präsidentin der „Focolare-Bewegung“, sprach sich in bewegenden Worten aus für ein Europa „als ein gemeinsames Haus für die Völker und die Minderheiten“. Und Andrea Riccardi, Minister der italienischen Regierung für internationale Zusammenarbeit und Europa, brachte es so auf den Punkt: „Christen müssen Widerspruch leisten gegen die Unglückspropheten, müssen den Traum von der Einheit neu zur Sprache bringen in einem Klima von Sympathie und Solidarität und mit einem ins aktive Handeln wirkende Empfinden für unsere gemeinsame Bestimmung als Europäer.“

Hans Guderian
 

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